Urlandschaft - Naturlandschaft - Kulturlandschaft. Landschaftsgeschichte Südwestdeutschlands
Vor 18000 Jahren, am Ende der Würmeiszeit, waren weite Teile Süddeutschlands von Gletschern bedeckt. In der Nähe der Gletscher herrschte ein kaltes Klima: Nördlich der Alpen wuchsen keine Bäume. Dank der späteren Klimaverbesserung wurde Mitteleuropa zum fast vollständig bewaldeten Land. Kein Waldtyp hielt sich auf Dauer: Es ist kennzeichnend für Natur, dass sie sich ständig verändert. Zuerst breiteten sich Kiefernwälder aus, dann herrschten Haselbüsche, danach Eichen vor. Noch später entwickelten sich Buchenwälder sowie Mischwälder, in denen auch Tannen vorkamen (vor allem im Schwarzwald), und andere, in denen Buchen, Fichten und Tannen standen (vor allem im Allgäu).
Buchenwälder kamen aber erst auf, nachdem Menschen begonnen hatten, in der sich wandelnden Natur eine stabile Kulturlandschaft einzurichten. Rings um die Siedlungen, die stets in sogenannter Ökotopengrenzlage an den Oberhängen der Täler entstanden (zwischen dem Weideland im Tal und dem Ackerland auf den tiefgründigeren Flächen zwischen den Tälern), wurde der Wald gerodet, damit Häuser errichtet, Kulturpflanzen angebaut und Tiere auf die Weide geschickt werden konnten. In der vom Menschen bewirtschafteten Landschaft sollten natürliche Entwicklungen (zum Beispiel Wachstum und Reifung des Getreides) zwar stattfinden können; aber durch die Bewirtschaftung der Flächen sollte sichergestellt werden, dass in jedem Jahr die identischen Grundlagen für das Überleben der Menschen bestanden. In jeder Kulturlandschaft wurde Stabilität angestrebt.
Ländliche Siedlungen bestanden zunächst weitgehend unabhängig voneinander. Sie waren nicht in staatliche oder wirtschaftliche Netze integriert. Wenn wirtschaftliche Probleme auftraten, beispielsweise dadurch, dass die Erträge nachließen oder nicht mehr genügend Bauholz vorhanden war, wurden sie an einen anderen Ort verlagert. Auf verlassenen Flächen setzte sich erneut die natürliche Entwicklung durch, und es schlossen sich erneut Wälder. In ihnen kam mit der Zeit immer häufiger die Buche vor.
In der Römerzeit und vor allem seit dem Mittelalter haben ländliche Siedlungen stets die gleiche Ökotopengrenzlage gehabt wie ehedem; andere Grundlagen gelten lediglich für Siedlungen des Juras, die in den feuchten Niederungen entstanden. Sie wurden aber nun nicht mehr verlagert, sondern sie wurden zu einem Teil einer festen Infrastruktur, deren Kernpunkte die Städte waren. Städte liegen grundsätzlich an anderen Orten als Dörfer: dicht am Wasser, so dass man eine Mühle betreiben kann und eine Holzversorgung durch Flößen oder Triften möglich wird. Die Mühlen der Städte wurden zu Dienstleistungszentren. Wirtschaftliche Zentren wurden die städtischen Märkte. Beim Bau der Häuser war man von den natürlichen Grundlagen abhängig. Man verwendete vor allem örtlich verfügbaren Stein. Wenn der Ort von Laubwäldern umgeben war, errichtete man Fachwerkhäuser. Denn Laubbäume lassen sich immer wieder auf den Stock setzen, worauf aus den Stümpfen gebogene Stämme austreiben. Sie kann man in Fachwerk einbauen; oft verwendete man die gebogenen Stammstücke gezielt als Schmuckelemente. Nadelholzstämme wachsen viel öfter gerade in die Höhe als Laubbäume. Daher lassen sich massive Holzhäuser bauen, wenn es genügend Nadelholz in der Umgebung gibt (im Schwarzwald, im Allgäu). Aus Nadelholz kann man auch Schindeln herstellen. Die Mühlen als Wirtschaftszentren wurden später aus den Stadtkernen verlagert, und bereits im 18. Jahrhundert setzte eine Umgestaltung ehemaliger Wirtschaftsflächen ein, die wir heute Konversion nennen würden. Als man in Stuttgart die Mühle beseitigt hatte, war es möglich, das repräsentative Neue Schloss zu errichten.
Auch auf dem Land veränderte sich viel; doch sind im Südwesten Deutschlands besonders viele Spuren alter Wirtschaftsformen erhalten geblieben, weil Landwirtschaft schon frühzeitig nur im Nebenerwerb betrieben wurde und keine Notwendigkeit gesehen wurde, das Land umzugestalten. So hielt sich die Feldgraswirtschaft auf der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald: Einzelne Ackerflächen innerhalb eines größeren Grünlandbereichs werden für einige Jahre umbrochen und dann wieder aufgelassen. Solche Äcker nennt man Egärten. Die Egärten bleiben zuweilen brach liegen; auf ihnen legen Schäfer Pferche für Schafe an, so dass die Flächen gut gedüngt werden. Vor allem in der Oberrheinebene sind noch heute schmale Ackerstreifen zu erkennen, die sogar ihre durch die Pflugtechnik hervorgerufene Wölbackerform behalten haben. Auch die saisonale Beweidung (Transhumanz) mit Schafherden gibt es nach wie vor. Die Herden ziehen über Land, und man kennt die "Verkehrszeichen" (Strohbündel, die an einem Stock befestigt werden), mit denen Bauern anzeigen, dass sie ihre Flächen nicht für die Beweidung freigegeben haben. Auch die zahlreichen Spezialkulturen (Weinbau, Streuobstwiesen, Tabakanbau, Hopfengärten usw.) machen die Landschaft in Südwestdeutschland sehr abwechslungsreich. Die Bewahrung von Charakteristika der Kulturlandschaft ist besonders wichtig, wenn man die Identität bestimmter Regionen erhalten möchte. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Silberdistel, mit der die Schwäbische Albstraße ausgeschildert ist, ein typisches Gewächs der Schafweiden der Alb ist und von Natur aus dort kaum vorkommen würde.
Verfasser:
Prof. Dr. Hansjörg Küster, Universität Hannover
Institut für Geobotanik
Nienburger Straße 17
30167 Hannover